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Buchcover Trip mit Tropf

Josephine Mark Trip mit Tropf

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Born to be wild – Ein Comic-Roman über die tröstliche Freundschaft zweier ungleicher Geschöpfe

Wie viele Tiere mit menschlichen, allzu menschlichen Eigenschaften sind einem im Lauf eines Kritikerlebens – ach, was sag ich: eines Menschenlebens! – über den Weg gelaufen? Mäuse. Enten. Katzen. Hunde. Bären. Füchse. Wölfe. Krokodile. Raupen. Ameisen. Maulwürfe. Schmetterlinge. Zicklein im Uhrkasten. Häschen in der Grube. Ohne Zahl.

Viele von ihnen sind in unmissverständlicher Mission unterwegs. Erst wollen sie die Aufmerksamkeit ihres Lesepublikums erheischen, um dann ihre Botschaften über Liebe, Freundschaft, Courage, Abenteuerlust, den Kampf zwischen Gut und Böse oder die Unvollkommenheit der Menschen charmant ins Gemüt der Leser und Leserinnen zu pflanzen. Von den antiken Geschöpfen Äsops und den Märchenfiguren der Romantik abgesehen: Selbst die tierischen Alltagshelden des 20. Jahrhunderts sind bereits Ururgroßväter und Ururgroßmütter ihrer Sippe, Winnie-the-Pooh, der Kröterich und seine Gesellschaft unter den Weiden, ja sogar Micky Maus, Donald Duck und Neffen.

Obwohl der Rezensent seit Kindertagen ein großer Freund tierischer Comicfiguren ist: Das, was ihm gerade im neuen Comicroman der Leipziger Autorin, Graphikerin und Illustratorin Josephine Mark über den Weg gelaufen ist, hat er noch nicht erlebt. Auf seinen ausgiebigen Waldspaziergängen entdeckte er bisher nie ein Hinweisschild auf eine Notfallambulanz für Tiere mitten in der Wildnis. Obwohl ja die Vielzahl von anthropomorphisierten Säugern, Vögeln, Reptilien, Fischen und Insekten in der Kinderliteratur förmlich nach einer medizinischen Notfallversorgung ruft. Dass sich nach einigen Zwischenfällen in den Behandlungskabinen der Waldpraxis in „Trip mit Tropf“ zwei höchst unterschiedliche Geschöpfe gemeinsam auf den Weg durchs Dickicht machen, scheint auf den ersten Blick unmöglich, auf den zweiten jedoch verständlich, ja überlebensnotwendig und, vor allem: tröstlich.

Der schussverletzte Wolf versorgt sich gerade selbst, nachdem Schwester Erdmute, eine extrem sehschwache Maulwürfin, mit der Kanüle an seiner Rollvene scheiterte. Er würde zwar, naturgemäß, das mickrige Kaninchen in der Nachbarkabine gerne mit einem Happs verspeisen, wenn es denn nicht so streng nach Arzneimitteln röche. Zudem prallt bei der folgenden überraschenden Jägerattacke die Kugel, die dem Wolf galt, am Infusionsständer des Nagers ab. Somit tritt der jahrhundertealte Wolfskodex in Kraft: „Wenn dir jemand das Leben rettet, musst auch du ihm das Leben retten. Danach könnt ihr wieder natürliche Feinde sein. Da hat sich der Wolf ja auf etwas eingelassen! Kaninchens Chemotherapie dauert fünf Monate. Im Comic sind das immerhin 180 Seiten, die Wolf und Nager samt Infusionsständer auf Rollen gemeinsam unterwegs sind, über Berg und Tal, vom Spätsommer bis zu den ersten Frühlingstagen in einer wunderschönen Rocky-Mountains-Landschaft. Zu Fuß, im geklauten Truck oder im Bike mit Beiwagen – ein Road Movie auf ständigen Abwegen. Der wütende Jäger und sein Hund Horst immer im Schlepptau.

Man mag es kaum glauben: In diesen Monaten entwickelt sich holprig, ungeschickt, von Fettnäpfchen begleitet, ein inniges, ja zärtliches Verhältnis zwischen den beiden Einzelgängern. Es wird einem dabei zum Heulen froh zumute. Als wären Wolf und Kaninchen die besten Botschafter von Lebensmut und Hoffnung seit der Esel in Grimms Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“ den Hahn aufforderte: „Ei was, du Rotkopf, zieh lieber mit uns fort, etwas Besseres als den Tod findest du überall.“

Josephine Marks Bildergeschichte ist eine zu Herzen gehende Parabel über die Freundschaft zweier Geschöpfe, deren Naturell unterschiedlicher nicht sein kann: Ein schwerkrankes, verängstigtes, einsames Kaninchen, fernab einer schützenden Kolonie. Ein forscher, aufbrausender Wolf, der zu wissen glaubt, wo es langgeht, und der die Dinge beherzt in die Pfote nimmt. Hinter seiner rauen Schale verbirgt sich jedoch eine fürsorgliche Seele. Und unter seiner Seelenhaut stecken sicher einige Gründe dafür, sich als lonesome Wolf durchs Leben zu schlagen und nicht dem Ruf des Rudels zu folgen.

Dass es einen so unvermittelt in die Handlung zieht, hat auch mit der Bildsprache, mit der Figurenzeichnung und der Kolorierung der Hintergründe zu tun. Man wandert durch die Geschichte, als würde man auf einem Waldspaziergang plötzlich von einer Parallelwelt gefangen, die flugs die eigenen, vertrauten Bilderfantasien animiert. In dieser Welt leben bekannte Geschöpfe. Sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – pfiffig, ironisch, ernst, mitfühlend, grob, kein Wort zu viel. Sie leben in einer schlichten farbigen Landschaft, die schon Donalds Neffen Tick, Trick und Track vom Fähnlein Fieselschweif durchwandert haben könnten. Sie sehen aus wie Karikaturen, liebevoll mit wenigen Strichen auf den Charakter gebracht. Doch sie sind weit mehr als das: Sie sind Leidtragende, verlässliche Begleiter, Fürsorger, Trostspender, Hoffnungsträger. Sie sind Lebewesen mit Schwächen und Tugenden und Witz und mit einem unerschütterlichen, wenn auch vielleicht tief verborgenen Freiheitsdrang, der sie „Born to be wild“ anstimmen lässt, selbst wenn Kaninchen im Fahrtwind das letzte Kopfhaar davonfliegt und Wolf der nächste Streifschuss droht.
Buchcover Trip mit Tropf

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.