Jenny Erpenbeck Gehen, ging, gegangen
- Albrecht Knaus Verlag
- München 2015
- ISBN 978-3-8135-0370-8
- 351 Seiten
- Verlagskontakt
Jenny Erpenbeck
Gehen, ging, gegangen
Mit Förderung von Litrix.de auf Arabisch erschienen.
Salah Helal hat „Gehen, ging, gegangen“ ins Arabische übersetzt.
Mehr
Was hat Ihnen an diesem Titel besonders gut gefallen?
Das raumzeitliche Orientierungsgefüge im Titel fand ich sehr gut gelungen. Der ungewöhnliche Titel ist aussagekräftig und fasst die Schicksale der Flüchtlinge, von denen der Roman handelt, elegant und zutreffend zusammen.
Vor welche Herausforderungen hat Sie die Übersetzung dieses Buchs gestellt?
Dieses Buch ist ein Tatsachenroman, dessen Übersetzung vielfältiges landeskundliches Wissen und ein tiefgreifendes interkulturelles Gespür voraussetzt. Gleichzeitig fehlt es in dem Roman nicht an emotionalen Höhe- und Wendepunkten, deren Übertragung in eine andere Sprache eine Herausforderung darstellte.
Wie würden Sie Ihre Rolle als Übersetzer beschreiben?
Anhand meiner Tätigkeit als Übersetzer, Germanist und Pädagoge möchte ich einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung leisten. Ich bemühe mich bei der Auswahl der zu übersetzenden Texte sowie beim Übersetzen um die Sensibilisierung des Lesers für die verdeckten inhaltlichen und poetischen Implikationen der Texte.
"Der Januskopf der Empathie"
Der Titel spielt mit dem unregelmäßigen Verb „gehen“, dessen Formen die Flüchtlinge im Deutschunterricht lernen und in dem sich ihre eigene Lebenssituation spiegelt: Sie sind einen langen, mühseligen Weg gegangen, um dem Elend zu entkommen, und sie werden, wenn sie an ihrem Zufluchtsort nicht bleiben dürfen, wieder gehen müssen. Jenny Erpenbecks Roman gründet sich auf Faktenrecherche: Die Autorin hatte eine Gruppe schwarzafrikanischer Asylsuchender, die um die Jahreswende 2013/14 in einem Camp in Berlin-Kreuzberg auf die bürokratische Abwicklung ihrer Fälle warteten, über einige Zeit begleitet und interviewt. Die so ermittelten Tatsachen, Biografien und Fluchtgeschichten flossen ein in die fiktive Rahmenhandlung um Richard, einen emeritierten Professor für Alte Sprachen aus der Ex-DDR. Er lebt komfortabel, aber vereinsamt vor den Toren der Hauptstadt; sein Thema ist nicht das Gehen, sondern das Vergehen - der Zeit, der historischen Epochen, des menschlichen Lebens. Sein Denken ist nicht politisch, sondern philosophisch geprägt; er vertritt den Typus des deutschen Bildungsbürgers der älteren Generation, den es in Ost- wie in Westdeutschland gab und noch immer gibt.
Als Richard zufällig in eine Demonstration der Flüchtlinge auf dem Kreuzberger Oranienplatz gerät, erwacht sein Interesse an den Schicksalen der Afrikaner. Aus seiner Neugier macht er ein Projekt: Er erkennt, wie wenig er über dieses Segment der Realität weiß, notiert sich Fragen und sucht die Männer in ihrer Notunterkunft auf. Kontakte werden geknüpft, man freundet sich an, Richard übt sich im Verstehen einer fremden Wirklichkeit und in praktischer Hilfeleistung. Die Erzählungen der Geflüchteten zeichnet er mit dem Tonband auf und versucht sie in einen historischen und literarischen Horizont einzuordnen. Dabei zeigt sich nicht nur, dass er in kolonialen Denkmustern verhaftet bleibt, sondern auch, dass seine aufflammende Empathie lediglich die Leerstellen seiner eigenen Existenz ausfüllt, während zugleich offenbar wird, dass politischer Bürokratismus in Europa fast jeden Ansatz, den Heimatlosen zu einem Neuanfang zu verhelfen, wieder zunichtemacht.
Es ist diese Ambivalenz, die Jenny Erpenbeck in einer so berührenden wie sachkundigen Mischung aus Milieustudie, Sozialreportage und Gesellschaftskritik ausleuchtet. Der Roman wirft Fragen auf, ohne Antworten vorzulegen. Die Autorin bedient sich einer unkomplizierten, leicht verständlichen Sprache, als habe sie ihren literarischen Ehrgeiz zurückgestellt, um möglichst viele Leser mit ihrem Anliegen konfrontieren zu können. Dennoch – oder gerade deshalb - kam sie mit „Gehen, ging, gegangen“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Von Kristina Maidt-Zinke
Kristina Maidt-Zinke ist Literatur- und Musikkritikerin der Süddeutschen Zeitung und rezensiert für Die Zeit.
Inhaltsangabe des Verlags
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
(Text: Albrecht Knaus Verlag)