Bücherwelt
Wo wir herkommen
Identitätsfindung, Geschichten vom Dorf, deutsche Lebensläufe: Corona zum Trotz ist das Bücherjahr 2020 ein starkes.
Von Christoph Schröder
Die Corona-Krise hat auch die deutsche Buchbranche heftig getroffen. Auch wenn sich die Absatzzahlen für den Juni 2020 unerwartet stark gezeigt haben, wird das Geschäftsjahr 2020 sowohl für den Buchhandel als auch für die Verlage mit Verlusten abgeschlossen werden. Das Publikum hatte aufgrund der abgesagten Leipziger Buchmesse und des Veranstaltungs-Lockdowns nur geringe Chancen, die unbestritten hohe literarische Qualität der Frühjahrsnovitäten in ihrer Bandbreite zu würdigen. Literaturveranstalter versuchen nun nach und nach, diesen Büchern einen „zweiten Frühling“, so die Initiative eines bundesweiten Netzwerks, zu verschaffen, doch die neuen Herbsttitel liegen bereits ab Ende Juli in den Buchhandlungen.
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Der Schriftsteller Thilo Krause beispielsweise, bislang nur als Lyriker in Erscheinung getreten und für seine Gedichte mit dem bedeutenden Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, legt Ende August mit „Elbwärts“ seinen ersten Roman vor. Krause, in Dresden geboren, erzählt darin in einer bildreichen und anschaulichen Sprache von der Heimkehr eines Paares in ein Dorf in der Sächsischen Schweiz. Die Vergangenheit holt den Ich-Erzähler in Form von schuldhaft belasteten Erinnerungen ein, während in der Gegenwart Nazis ihr Sommerlager aufschlagen und dem Paar das Misstrauen des Dorfes entgegenschlägt. Ebenfalls aufs Dorf, und das bereits im Titel, begibt sich Christoph Peters in seinem im August erscheinenden „Dorfroman“. Peters, am Niederrhein geboren, hatte in seinem fabelhaften, 2012 erschienenen Roman „Wir in Kahlenbeck“ von einer Jugend in einem katholischen Jungeninternat an der niederländischen Grenze erzählt. Nun, nach diversen äußerst intelligenten und unterhaltsamen Ausflügen in das Genre des Krimis, setzt Peters mit dem „Dorfroman“ neu an: Sein Erzähler besucht die Eltern in Hülkendonck. Auch hier ist dies der Anlass für ein großes Erinnerungspanorama, und spätestens, wenn es um den Bau eines Atomkraftwerks und die daraus entstehenden ideologischen Kämpfe geht, wird klar, dass Hülkendonck Peters‘ Geburtsort Kalkar sehr ähnlich sein dürfte.
Ostdeutsche Erfahrungen und Lebensläufe thematisieren zwei der bemerkenswertesten Bücher, die in diesem Jahr bislang erschienen sind: Ingo Schulzes raffiniert komponierter und für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierter Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ rekonstruiert die Geschichte eines Buchhändlers und Antiquars, der zu DDR-Zeiten eine Art Leuchtturm der intellektuellen Opposition wird und nach dem Fall der Mauer alles verliert: Seine ökonomische Grundlage, seine Bedeutsamkeit, sein geistiges Fundament. Niemand braucht ihn mehr, niemand will ihn mehr sehen. Ob er sich tatsächlich radikalisiert und zu einem Wutbürger aus dem bildungdbürgerlichen Lager wird, lässt Schulze offen, doch der Roman erklärt ein gesamtdeutsches Phänomen: Wie jemand, der sich unverstanden fühlt, sich plötzlich als Systemgegner inszeniert.
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Selbstvergewisserung, Gründungsgeschichten des Landes, in dem wir leben, Erfahrungen von kultureller Heterogenität – was mit dem Begriff „Identitätspolitik“ umschrieben wird, findet in der Buchproduktion der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auch 2020 einen ästhetisch breit gefächerten Ausdruck. Es ist ein starkes Bücherjahr, Corona zum Trotz.
Christoph Schröder, lebt als freier Autor (Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, Die Zeit) in Frankfurt am Main und ist Dozent für Literaturkritik an der dortigen Universität.