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Buchcover Vom Ende der Endlichkeit. Unsterblichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz

Moritz RiesewieckHans Block Vom Ende der Endlichkeit. Unsterblichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Die Seele lebt – Big Data auch!

Im neunzehnten Jahrhundert kam eine forensische Methode zur Identifizierung von Mördern in Mode. Sie soll im berühmten Fall Fritz Angerstein wohl Mitte der zwanziger Jahre zum letzten Mal zur Anwendung gekommen sein. Die Rede ist von der Optographie, einer Untersuchung der Netzhaut von Toten, bei der man glaubte, eine Art Negativabzug des Bildes zu finden, das das Opfer eines Verbrechens vor seinem Tod zuletzt erblickte. Möglicherweise den Mörder. Die Methode wurde wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit und ausbleibender Ergebnisse bald eingestellt und beschäftigt seither vor allem Künstler.

Das Buch „Vom Ende der Endlichkeit“ der Filmemacher Moritz Riesewieck und Hans Block lässt an diese Skurrilität der Wissenschaftsgeschichte denken. Denn das Auge ist weiterhin im Visier der Wahrheitsforscher. Und zwar jener, die mithilfe der Digitalisierung per „Eye Tracking“ herausfinden wollen, wer wir sind. Dabei kommen Sensoren wie Beschleunigungs- und Magnetometer zum Einsatz, die wie eine hochauflösende Kamera längst in Smartphones verbaut sind. So können Pupillenbewegungen, die stattfinden, analysiert werden, während jemand das Angebot einer Website betrachtet. Wo genau bleibt unser Blick haften? Für wie lange? Was übergeht er? Solche Informationen sind von großem Nutzen für all jene Dienstleister, die sich ein ausführliches Bild davon machen wollen, wer wir sind. Denn erst dann können passgenaue Kaufangebote unterbreitet werden. Und zwar wiederum mithilfe einer anderen modernen Technologie: der Datenanalyse.

„Längst brauchen selbstlernende Algorithmen keine Vorgaben mehr, wonach sie suchen sollen“, heißt es im Buch. „Mit den passenden Datensätzen können sie Muster identifizieren, die ein Mensch niemals wahrnehmen würde, können Zusammenhänge ausmachen, auf die Menschen nicht gekommen wären. Aber nicht nur das: Indem sie die Datensätze unzähliger Menschen miteinander vergleichen, können sie auch Annahmen über Eigenschaften und Verhaltensweisen von Menschen treffen, die gar nicht bei diesen Menschen beobachtet worden sind. Der Trick: Die Algorithmen suchen nach Doppelgänger*innen.“

Es sind nicht nur die unheimlichen Wege der Werbung im Zeitalter der Digitalisierung, die beschrieben werden. Es sind auch die neuen Konzepte dessen, was wir für eine Person halten. Altmodischer ausgedrückt: für die Seele eines Menschen.

Riesewieck und Block haben sich im Reportagestil auf eine Reise um die Welt begeben. Dort treffen sie auf unterschiedlichste Entwickler, die an der Abschaffung unserer Endlichkeit arbeiten. Gegen den echten Tod ist bislang noch immer kein Kraut gewachsen. Deswegen arbeiten engagierte Pioniere seit Jahren wenigsten an der Unsterblichkeit der Seele, dort wo die rückgehende Gläubigkeit der Menschheit weltweit ein Vakuum hinterlassen hat. Hier gibt es diverse Stoßrichtungen. Alle lesen sich irgendwie beunruhigend. Auch wenn die Autoren mit viel Enthusiasmus bei der Sache sind.

Ein junger Mann in Toronto empfängt sie in seiner Wohnung. Seit Jahren archiviert er sein komplettes Leben in der MEMEX, einer Art externalisiertem Superhirn. Jeder Moment seiner Biografie wird von Kameras festgehalten. Namen, Daten, Uhrzeiten, Orte – alles wird vermerkt, auch das Interview, und ist damit sofort per Mausklick erinnerbar.

Damit will der junge Mann erstens unlöschbar werden für die Nachwelt und zweitens die Schwachstellen der menschlichen Psyche überwinden. Denn Menschen erinnern sich ohne technische Hilfsmittel selektiv, fehlerhaft und tendenziös. Ständig trickst uns unser eigener Kopf aus. Hierzu gibt es viele psychologische Experimente, die bestätigen: Uns ist einfach nicht zu trauen. Gut also, wenn uns jemand besser kennt als wir selbst: „Die Sonne steht tief und färbt alles in goldenes Licht. Als wir Andrew und Michal fragen, wann sie das letzte Mal hier waren, schaut Michal reflexhaft zu Andrew, der längst zu seinem Handy gegriffen und die MEMEX geöffnet hat. Im Nu weiß er den Tag, die Uhrzeit, das Wetter ihres Besuches hier. Gelesen hätten sie, berichtet er, genaue eine Stunde lang. Buchtitel und -inhalt sind in der MEMEX hinterlegt. Ein Gespräch über das Buch oder über das letzte Mal, das sie hier waren, entsteht nicht.“

Solche Datensätze sind das eine. Das andere sind moderne Technologien wie die inzwischen ziemlich nuancierte NLP-Software. NLP steht für Natural Language Processing. Und versucht, aus echten Sprachaufnahmen von Personen, die schon verstorben sind, neue Aussagen zu generieren. Und zwar wiederum auf Grundlage von Datensätzen, die es zur „Persönlichkeit“ dieser Person gibt. So kommt es zu merkwürdigen Wiederauferstehungsprojekten geliebter Verstorbener, die uns Lesende vom Silicon Valley bis in die Jugendzimmer überzeugter Nerds nach Bukarest führen. Wie gesagt, mit sehr gemischten Gefühlen. Neben Faszination für das technisch Mögliche, lassen die Autoren auch Raum für Skepsis.

Das Buch endet nicht mit der Abschaffung des Todes, sondern mit einem Hoch auf die Seele. Die scheint nämlich – Big Data hin oder her – einfach nicht filterbar zu sein. So muss auch der Mensch im 21. Jahrhundert auf die Einzigartigkeit seiner Performance auf Erden vertrauen. Auch wenn weltweit ein enormer Aufwand zur Verlängerung unserer Präsenz und zur Auslesung unseres Wesens betrieben wird: Die Unberechenbarkeit des Individuums, die immer auch aus der Unberechenbarkeit anderer Individuen entsteht und wiederum unberechenbare Interaktionen erzeugt – diese Unberechenbarkeit bleibt ungebrochen der Kern dessen, was wir noch immer die Seele nennen. Der Rest steht in diesem Buch.
Buchcover Vom Ende der Endlichkeit. Unsterblichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz

Von Katharina Teutsch

​Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.