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Buchcover Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Martina Hefter Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Übersetzungsförderung
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.

Das Spiel der Götter

Wie das Ende und der Anfang der Welt in Eins fallen, das konnte man im Kino sehen, und zwar in den ersten Minuten von Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“. Auf der Tonspur: das sanfte flapp flapp flapp vorbeischwebender Hubschrauber, begleitet von der hypnotisch vor sich hin mäandrierenden Gitarre der Doors („The End“). Im Bild: die düstere Wand eines Urwalds aus Palmen, die sich durch eine Napalm-Explosion, aber lautlos, zum Flammenmeer verwandelt. Wie ein buddhistischer Geist überblendet dann eine Gesichtslandschaft die Szene. Der schweißgebadete Captain Benjamin L. Willard, gespielt vom jungen Martin Sheen: Sein Blick ist leer und auf den Ventilator an der Zimmerdecke gerichtet. Flapp flapp flapp… Der Captain erwacht in Saigon und fliegt ins Herz der Finsternis.

Da ist es vielleicht ein harter Schnitt von Benjamin L. Willard auf Juno Isabella Flock, so nämlich heißt die Heldin (oder ein Alter Ego) der in Leipzig lebenden Schriftstellerin Martina Hefter. Doch wie, wenn nicht als eine andere ‚Apokalypse jetzt‘ soll man deren Roman schon lesen? Juno „lag auf einer Gymnastikmatte auf dem Boden, ein paar zerstreute Bauchmuskelübungen, das war alles. Eigentlich schaute sie die meiste Zeit an die Zimmerdecke. Ein Stuckrelief klebte da, mehrere konzentrische Kreise, auf denen Blüten schwebten. Sie waren so oft mit Farbe überstrichen, dass sie aussahen wie Planeten. Sie kreisten auf ihren Bahnen, Tag und Nacht.“ Auf der Tonspur: Bing bing bing. Das sind die Instagram- und WhatsApp-Nachrichten auf dem Sperrbildschirm ihres Handys. Schaut Juno drauf, dann liest oder schreibt sie Sätze wie den, der hier zum Romantitel wurde: „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ Hat sie überhaupt die Wahl? Sie kann mit Typen chatten, die vermutlich nicht die sind, als die sie sich ausgeben; sie kann diese Typen, die irgendwo in Nigeria sitzen und es auf das Geld so einsamer wie liebeshungriger Frauen aus dem Norden abgesehen haben, auch blockieren. Ein Fingertipp, dann ist es vorbei, bevor es angefangen hat.

Und aus dem Nebenzimmer dringt bläuliches Licht und manchmal das Geräusch, das vom Motor eines Pflegebetts verursacht wird. Hier liegt der, den Juno von allen am besten und längsten kennt. Er ist schwerkrank, heißt Jupiter und ist, wie im Mythos, Junos Mann.
Und ein dahinsiechender König der Götter. Juno leidet unter Multipler Sklerose und kann seine Schuhe nicht mehr allein anziehen. Wenn die Zahnschmerzen, die gerade so schlimm sind, nicht verschwinden, dann ist ein Schub zu befürchten, der gewöhnlich auf der Notaufnahme endet. Und dauernd vergisst Juno, den Brief einzuwerfen, mit dem das Arzneimittel Copaxone stets wieder neu beantragt werden muss. Zum Überleben braucht Jupiter davon jeden Tag eine Spritze, und das seit 2008. Macht bis heute 5475 Stück, wenn man die Schaltjahre mal außer Acht lässt. Ein ganz schöner Haufen Plastik, wobei es Juno ist, die immer hinunterläuft zur Mülltonne, Jupiter schafft das nicht mehr.

Was wird werden? Das steht in den Sternen, die der Heldin die Richtung weisen, auch wenn sie von der orangefarbenen Straßenbeleuchtung in der Leipziger Nacht fast überstrahlt werden. Leuchtet Orion am Himmel, dann steht er, von hier aus betrachtet, aufrecht. In der südlichen Hemisphäre aber, in „Nigeria sah man Orion die Nacht über beinahe querliegend, den Bogen nach oben gerichtet.“ Aus diesem Süden, der am Boden liegenden Welthälfte, schießt ein junger Mann namens Benu seine Instagram- und WhatsApp-Nachrichten in den Orbit. Benu: das war auch der Name des altägyptischen Totengottes.

Und Love Scamming? Juno weiß Bescheid, sie hat ja auf Youtube das Tränental sämtlicher Spiegel-TV-Reportagen längst durchschritten, in denen schwer gedemütigte Frauen beichten, wie sie die Wahrheit zwar ahnten, doch zum Aussteigen schon viel zu tief drinsteckten in ihrer Sucht. Unerschütterlich ihr Glaube an den erfolgreichen, weißen Geschäftsmann mit schönem Profilbild, der sich im Internet gemeldet und aus heiterem Himmel Liebesschwüre geschickt hatte. Der aber dann, und sehr überraschend, in Schwierigkeiten geraten war (Autounfall, Diebstahl etc.) und um Geld bat. Überweisung für Überweisung auf irgendein Western-Union-Konto; es gibt tatsächlich Frauen, die auf diese Weise obdachlos geworden sind. Und nigerianische Love Scammer, die vor der Spiegel-TV-Kamera erklären, warum es okay sei, sich hinter einer Fake-Identität zu verbergen, um solche Frauen auszunehmen. Die seien die Erbinnen der europäischen Kolonialherrschaft über Afrika; endlich müsse mal jemand dafür zahlen.

Schnell weiß Juno auch Bescheid, dass der Mann, der sich als Owen_Wilson223 bei ihr meldet, so ein Love-Scammer ist; doch wird sie vom enttarnten Benu nicht, wie üblich in solchen Fällen, blockiert, und so entspinnt sich mit echten Namen, Gesichtern und später im Video-Call eine Art Fernbeziehung und ein zusehends verstörenderes Spiel. Dreht aber Juno, die Schriftstellerin und Königin der Götter, den Spieß wirklich um, wenn sie einem Love-Scammer alle möglichen Lügen über ihr Leben auftischt? Wer stiehlt hier wem die Zeit, wer beutet wen aus? Und verliebt sich, aus Versehen, sogar? Eines zumindest weiß Juno so gut wie Scheherezade: es geht nur weiter, so lange erzählt wird. Und so lange auf dem Display nicht ein Satz aufleuchtet, der den Romantitel zur Implosion bringt: „Hey bist du noch da?“

Wie alle große Literatur lebt Monika Hefters Roman zuallerletzt vom Thema. Und ist doch keine l’art pour l’art. Das ist ja alles gar nicht irrelevant – und auch nicht ganz ohne: Das Älterwerden, die Krankheit, die Einsamkeit in einer sich langsam entzweienden Beziehung, das Überborden einer unstillbaren Sehnsucht und ihre Zuflucht in Kunst oder Größenwahn. Das Gefängnis des monoton Alltäglichen. Sowie der unabweisliche Umstand, dass die bei uns empfundenen Probleme den Lebensumständen derer Hohn sprechen, die in ganz anderen Teilen der Welt leben. Riesenthema Postkolonialismus.

Bliebe die Frage nach einem Trickbetrug, der hier nicht bloß im Erzählten verübt wird. Es ist der Trickbetrug des Schlüsselromans, der den Leser zum Fact Checking verführt und zur leider voyeuristischen Neugier darauf, was, über das offensichtlich Wiedererkennbare hinaus, denn sonst noch alles wahr sein könnte. Die Fakten: Martina Hefter, 59 Jahre alt, in Leipzig lebende Performancekünstlerin, Lyrikerin und Autorin von bislang drei Romanen. Jan Kuhlbrodt, ihr Mann: ein Jahr jünger, mit Martina Hefter in Leipzig zusammenlebend, Lyriker und Romancier. Leidet an Multipler Sklerose und hat das vor kurzem in seinem Prosaband „Krüppelpassion – oder Vom Gehen“ thematisiert.

Juno und Jupiter? „Ich danke“, schreibt Martina Hefter in einem Nachsatz zu ihrem Roman, „meinem Mann Jan Kuhlbrodt, dass er da ist. Und dass er nicht nur nichts dagegen hatte, hier und da in diesem Buch mit Jupiter verwechselt zu werden, sondern den Gedanken sogar schön fand. Und ich danke meinen geliebten Töchtern Sofia und Maria, dass sie auf der Erde sind.“ Von diesen Töchtern zum Beispiel war im Buch schon mal nicht die Rede. Wie weit die Dichtung die Wahrheit ausbeutet, das bleibt die offene Schlüsselfrage des Schlüsselromans. Trickster, wohin man schaut. In Nigeria nehmen sie Frauen aus. In Leipzig erfinden sie Geschichten. Was Martina Hefter hier auf grandiose Weise gelungen ist. „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ wurde zum Bestseller und gewann den Deutschen Buchpreis 2024.
Buchcover Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Von Ronald Düker

Ronald Düker ist Kulturwissenschaftler und Autor im Feuilleton der ZEIT. Er lebt in Berlin.