Nicolas Mahler Komplett Kafka

Buchcover Komplett Kafka

Inhaltsangabe des Verlags

Suhrkamp Verlag
Berlin 2023
ISBN 978-3-518-47374-0
127 Seiten
Verlagskontakt

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen 

Franz Kafka durch die Brille des Cartoonisten

Franz Kafka (1883-1924) lässt sich immer wieder neu entdecken. Nach seinem Tod sorgte sein Freund Max Brod für das Überleben seiner Werke. Kafka wird seitdem als visionärer moderner Schriftsteller wahrgenommen, dessen Erzählkosmos bis heute viel Raum für Interpretationen zulässt. Erst vor wenigen Jahren wurde Kafkas zeichnerisches Werk umfassend erschlossen. Dass seine düster-verrätselten Erzählungen auch viel (absurden) Humor enthalten, ist mittlerweile unbestritten.

Da passt es, dass sich der österreichische Comiczeichner und Cartoonist Nicolas Mahler zu Kafkas 100. Todestag dessen Leben und Werk vorknöpft: „Komplett Kafka“ lautet der vollmundige Titel seines neuen Buchs. Doch kann man der Vielschichtigkeit des deutsch-jüdischen Prager Schriftstellers auf rund 100 Seiten und in humoristischer Weise gerecht werden? „Mahler“, wie sich der Zeichner verkürzt nennt, beweist es. Er liefert eine durchaus solide und zugleich unterhaltsame Einführung in Kafkas Biografie, sein Denken und seine zentralen Schriften.

Für den 1969 geborenen Comiczeichner ist dies nicht die erste künstlerische Begegnung mit Weltliteratur: Ob Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“, James Joyces „Ulysses“ oder Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ – Mahler hat all diese Meilensteine der Moderne in kompakte Comicversionen „verwandelt“. Deren erzählerischer Monumentalität setzt er Pointiertheit und satirische Zuspitzung entgegen. Über den österreichischen Dramatiker Thomas Bernhard hat er zudem 2021 eine spitzfindige „Comicbiografie“ geschaffen. Mahlers Interpretationen der Literaturklassiker sind Lieblinge des Feuilletons und stellen treffende Verdichtungen mit eigenem künstlerischen Wert dar. Nicht zuletzt wegen seines unverkennbaren minimalistischen, karikierenden Strichs hat Mahler auch in der deutschsprachigen Comicszene einen festen Platz. Sein beißender schwarzer Humor österreichischer Färbung passt perfekt zu seinen skurrilen Männchen, mittels derer er gerne menschliche Schwächen entlarvt.

„Komplett Kafka“ kann sicherlich als ein Höhepunkt in Mahlers Literatur-Reihe angesehen werden. Formal handelt es sich nicht um einen puren Comic, sondern um eine mit Illustrationen und Cartoons versehene biografische Erzählung. Mahler verdichtet darin bündig den Lebensweg Kafkas, kommentiert gelegentlich mit feiner Ironie, lässt zumeist aber Kafka selbst sprechen. Der Zeichner betrachtet den Menschen Kafka, dessen Verwurzelung in der deutsch-jüdischen Gemeinschaft in Prag, wie auch die sein ganzes Leben bestimmenden Selbstzweifel, die sich unter anderem im „Brief an den Vater“ niederschlugen. Während Kafka selbst als schmaler Strich mit Segelohren dargestellt wird, zeichnet Mahler dessen Vater Hermann als monströsen, kräftigen Golem, jene bekannte Figur aus der jüdischen Mystik. Die biografischen Passagen werden oft von Cartoons und Comicsequenzen unterbrochen, die humorvoll Kafkas Romane und Erzählungen wie „Die Verwandlung“ oder „Ein Hungerkünstler“ interpretieren. So wittert Mahler eine Verwandtschaft zwischen Kafkas Roman „Das Schloss“ und Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirfilm „Nosferatu“, die beide um 1922 entstanden sind. Für jedes verwendete Zitat gibt Mahler im Anhang auch die jeweilige Quelle an. Mahler zieht die Tagebücher und Briefe Kafkas wie auch die Erinnerungen Max Brods heran. Besonders anrührend gelingt Mahler die Darstellung von Kafkas ebenso verzweifelten wie tragikomischen Bemühungen, mit seiner Verlobten Felice Bauer eine Beziehung aufzubauen. Der eifrige Briefeschreiber erscheint so ganz heutig als (fehlbarer) Mensch. Für Erheiterung sorgen Zitate aus Rezensionen von Kafkas Zeitgenossen, die sein Genie meist verkannten und etwa „Die Verwandlung“ als „phantasielos und langweilig“ beurteilten. Wenig bekannt ist auch, wie Mahler erwähnt, eine 1920 verfasste unautorisierte Fortsetzung der Erzählung durch den „Fan“ Karl Brand: Dieser gönnte dem in einen Käfer verwandelten Gregor Samsa eine „Rückverwandlung“ und somit ein Happy End.

Mahlers schmissige, mit dickem Pinselstrich ausgeführte Tuschezeichnungen zitieren und parodieren gekonnt Kafkas eigene Zeichnungen, die oft abstrahierte Studien einzelner Figuren waren. Gerne bricht der Österreicher Kafkas abgründige Welt durch kleine Albernheiten auf. Die tiefe Verstörung, die Kafkas von Krankheit geprägtem Leben und vielen seiner Texte innewohnt, wird durch Mahlers ironischen wie liebevollen, zutiefst empathischen Blick auf dessen Seelenqualen erträglich gemacht. In „Komplett Kafka“ landet der Jahrhundertschriftsteller auf dem Seziertisch eines zeichnenden, nicht weniger genialen Humoristen.
Buchcover Komplett Kafka

Von Ralph Trommer

Ralph Trommer, Dipl. Animator, freier Autor und Künstler, schreibt für verschiedene Medien regelmäßig Rezensionen und Fachartikel über Comics, Graphic Novels und Filme.
 

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