In einem Dorf in der brandenburgischem Uckermarck wohnt die Regisseurin und Autorin Lola Randl. Auch sie verarbeitet das Dorfleben in ihrem neuen Roman: In „Angsttier“ (Matthes & Seitz) schickt Randl den Schriftsteller Jakob und seine Freundin Friedel auf die Suche nach einem Haus auf dem Land. Wie der Titel des Romans schon verrät, verkehrt sich die klischeebesetzte Erwartung an ein idyllisches Häuschen schnell ins Gegenteil. Jakob wird nach einem Angriff von wilden Tieren in einen von Lola Randl nur abstrakt beschriebenen Wahn hineingesogen. Der Wunsch nach Ruhe und Zufriedenheit bleibt unerfüllt, das Leben auf dem Dorf entwickelt sich zum Albtraum.
Etwas weniger drastisch ist die Erfahrung von Mirjam Wittigs Ich-Erzählerin Noa im in Teilen poetisch anmutenden Roman „An der Grasnarbe“ (Suhrkamp Verlag). In der Großstadt wird Noa von Panikattacken gequält, auf dem französischen Land sucht sie beim Schafe hüten und Gemüse pflanzen nach Distanz zu den eigenen Gedanken. Dieser Ortswechsel bringt ihr zumindest einen wohltuenden Perspektivwechsel.
Während „Schreie & Flüstern“, „Angsttier“ und „An der Grasnarbe“ von Menschen erzählen, die sich nach dem Landleben und den damit verbundenen Versprechen von Natur und Erholung sehnen, zieht es die Hauptfiguren zweier anderer Romane aufgrund offener Fragen in die Dörfer ihrer Jugend zurück. So zum Beispiel den Protagonisten in Johannes Laubmeiers autobiographisch geprägtem Debütroman „Das Marterl“ (Klett-Cotta Verlag). Der Erzähler Johannes kehrt zehn Jahre nach dem Unfalltod seines Vaters in sein Heimatdorf in Niederbayern zurück, getrieben von dem Wunsch, noch einmal in die Vergangenheit einzutauchen. Im Text vermischen sich neue Eindrücke der einst so vertrauten Umgebung mit Schilderungen der erinnerten Vergangenheit, wodurch eine sensible Annäherung an den tragischen Verlust des Vaters stattfindet.
© Piper, © Hanser, © Klett-Cotta, © Suhrkamp
Zwei weitere Romane zeigen, dass eine Rückkehr in die Kindheit und Jugend auch in der eigenen Erinnerung möglich ist. In „Wir waren wie Brüder“ (Hanser Berlin) beschreibt der Journalist Daniel Schulz die Nachwendezeit der 90er Jahre in Brandenburg, die von Arbeitslosigkeit, rechter Gewalt und Unsicherheit geprägt waren. Auch „Nullerjahre“ (Kiepenheuer & Witsch) von Hendrik Bolz, bekannt als Rapper „Testo“, setzt sich mit dieser Umbruchszeit auseinander. In einer rasanten, von popkulturellen Zitaten durchzogenen Sprache erzählt Bolz in seinem autobiographischen Buch von einer Jugend im Stralsunder Plattenbauviertel „Knieper West“. Mit ihren eindringlich persönlichen Blicken auf die Nachwendezeit in der ostdeutschen Provinz schließen Daniel Schulz und Hendrik Bolz eine Lücke in der deutschsprachigen Literatur.
Doch das Land muss nicht immer verheißungsvolle Idylle oder Projektionsfläche der Erinnerungen sein: Manchmal ist es auch einfach nur zufälliger Lebensmittelpunkt der Hauptfiguren. So möchte Sven Pfizenmaier seinen Roman „Draußen feiern die Leute“ (Kein & Aber Verlag) selbst nicht als „Provinzroman“ bezeichnen, und doch spielt das Buch in einem Dorf zwischen Hannover und Celle. Pfizenmaiers Erzählinteresse gilt vor allem drei jungen Erwachsenen, die jeweils von ganz unterschiedlichen, seltsamen Eigenschaften geplagt sind. Gleichzeitig verschwinden in dem niedersächsischen Dorf wie auch im ganzen Land junge Menschen, sodass sich der Roman nach und nach zu einer mystischen Kriminalgeschichte entwickelt.
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Und auch das neuste Buch des schon einmal als „Chronisten der ländlichen Welt“ bezeichneten Schriftstellers Reinhard Kaiser-Mühlecker ist von einem düster melancholischen Grundton geprägt. In „Wilderer“ (Fischer Verlag) lässt Kaiser-Mühlecker die zwei Welten Stadt und Land aufeinanderprallen, personifiziert durch den jungen Landwirt Jakob und die Salzburger Künstlerin Katja, die sich auf einer Online-Dating-Plattform kennenlernen und ihr Leben fortan gemeinsam bestreiten.
Auffällig an dieser neuen deutschsprachigen Provinz-Literatur ist, dass das Leben auf dem Land häufig mit einer unheilvollen Stimmung verbunden ist – vom verheißungsvollen Paradies keine Spur. Fast wirkt es, als würden Autor*innen mit dem eindimensionalen Klischee des sorgenfreien Landlebens brechen wollen. Denn so vielfältig das Leben außerhalb der Stadt in der Realität ist, so bunt wird es in den aktuellen Spielarten des „Dorfromans“ geschildert. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird dadurch um interessante Facetten bereichert.
Sally-Charell Delin ist Journalistin, Moderatorin und Rezensentin beim Saarländischen Rundfunk. Sie moderiert Lesungen, das Gesprächsformat "Literatur im Gespräch" und den Podcast "tabularasa - weg mit Tabus". Thematisch beschäftigt sie sich vor allem mit junger, deutschsprachiger Literatur, Kultur und Gesellschaft.
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