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HaiKuh

Gmehling, Rautenberg, Mohl
© Peter Hammer Verlag, © Peter Hammer Verlag, © Tyrolia

Die Lyrik-Empfehlungen für Kinder

von Dr. Ines Galling

Am Welttag der Poesie, dem 21. März, betrat 2024 die „HaiKuh“ die kinderliterarische Bühne: Das kecke Wappentier ist das Maskottchen der Lyrik-Empfehlungen für Kinder (LYEfK), die im vergangenen Jahr aus der Taufe gehoben wurden. Die LYEfK schließen an die Lyrik-Empfehlungen für Erwachsene (LYE) an, die es bereits seit über zehn Jahren gibt und die jährlich veröffentlicht werden. Kooperationspartner der LYE sind die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (DASD), die Stiftung Lyrik Kabinett und das Haus für Poesie. Für die Kinderlyrik kam die Stiftung Internationale Jugendbibliothek (IJB) in München dazu, die weltweit größte Spezialbibliothek für Kinder- und Jugendliteratur mit einem weitgefächerten Veranstaltungs-, Vermittlungs- und Forschungsprogramm.

Kinderlyrische Schwerpunkte setzt die IJB seit 2011 mit der Herausgabe des illustrierten, mehrsprachigen Kinder Kalenders (erscheint im Moritz Verlag) sowie mit dem Projekt „Mehr Gewicht fürs Kindergedicht“, das gemeinsam mit der DASD und der Stiftung Lyrik Kabinett in den Jahren 2016-2018 verwirklicht wurde: Mit dem Ziel, eine Brücke zwischen „Lyrik für Kinder“ und „Lyrik für Erwachsene“ zu schlagen, wurden sechs Lyriker:innen, die zum Teil schon Kindergedichte verfasst hatten, eingeladen, Poesie für Kinder zu schreiben. Bebildert von vier Illustrator:innen, erschienen die Texte 2018 in der Anthologie Ein Nilpferd steckt im Leuchtturm fest. Tiergedichte für Kinder im Mixtvision Verlag. Die Buchpublikation wurde von einer Ausstellung begleitet und inzwischen sind viele der Gedichte auch in anderen Zusammenhängen veröffentlicht worden.

Anknüpfend an diese erfolgreiche Zusammenarbeit stärken nun die LYEfK die Sichtbarkeit der Kinderlyrik, indem sie auf die Vielfalt aktueller Lyrik für Kinder aufmerksam machen: Denn bereits seit einigen Jahren kann man einen kleinen kinderlyrischen Boom im deutschsprachigen Raum feststellen: Es gibt Veröffentlichungen von neuen Stimmen und „alten Hasen“ in Einzelbänden, Sammlungen, Anthologien oder poetischen Bilderbüchern.

In einer Wendebroschüre und auf www.lyrik-empfehlungen.de erschienen die ersten elf LYEfK-Titel am 21. März 2024 gemeinsam mit den der neuen Auswahl für „die Großen“. Die Mitglieder eines poesiebegeisterten Gremiums, das aus Schriftsteller:innen, Illustrator:innen, Kritiker:innen, Hochschullehrer:innen sowie zudem aus den Preisträger:innen des lyrix-Wettbewerbs für junge Lyrik besteht, stellen ihre persönlichen Vorschläge in kurzen, knackigen Texten vor. Für die Auswahl berücksichtigt werden Originalausgaben wie auch Übersetzungen, und die empfohlenen Titel richten sich primär an Kinder zwischen drei und elf Jahren.

Die LYEfK wollen nicht nur „Lust auf Lyrik“ machen, sondern allen Beteiligten im kinderlyrischen Kosmos zugutekommen: den Urheber:innen, den Verlagen, dem Buchhandel, den Bibliotheken und natürlich der kleinen wie großen Leserschaft. Poesieinteressierte, die Anregungen suchen, können in der Broschüre, auf der Homepage sowie auf den Instagram-Kanälen der IJB stöbern. Die charmante Botschafterin der LYEfK, die HaiKuh, ziert Plakate und Postkarten, tummelt sich auf der Homepage und klebt als Sticker auf den empfohlenen Büchern und signalisiert: Hier ist gute Kinderlyrik drin!
 

Schneider, Raubaum, Heinrich © dtv, © Tyrolia, © mairisch

Ein weiterer wichtiger Teil der LYEfK ist das reichhaltige Vermittlungs- und Veranstaltungsprogramm: Angeboten werden Lesungen und Workshops von den Urheber:innen oder qualifizierten Literaturpädagog:innen im kleinen oder größeren Format sowohl in Kindergärten und Schulen als auch auf Literaturfestivals und in Literaturhäusern. In der aktuellen Runde wurden insgesamt über 50 verschiedene Formate zu den Büchern realisiert – in jedem deutschen Bundesland sowie in Österreich und der Schweiz.

Darüber hinaus gibt es die so genannten „Handreichungen“ für die Vermittlungsarbeit. Einfach lyrisch! bietet Pädagog:innen Methoden und Materialien, um Schulklassen an die empfohlenen Bände heranzuführen: Vorgestellt werden verschiedene handlungs-, produktionsorientierte und performative Impulse, die die klanglichen Dimensionen der Gedichte ebenso wie das sinnliche Erleben und das Zusammenspiel von Sprache, Körper und Bewegung hervorheben. Diese originellen und spielerisch-kreativen Zugänge machen Spaß und fördern en passant eine Vielzahl von Kompetenzen. Die Handreichungen können kostenfrei auf www.lyrik-empfehlungen.de heruntergeladen werden und bieten auch für den DaF- oder DaZ-Unterricht interessante Anregungen.

Die 2024er LYEfK-Auswahl

Die elf Bücher zeigen ein breites Spektrum und sind damit einerseits repräsentativ für das, was aktuell im Segment der Kinderlyrik passiert, während sie andererseits den Blick für das Besondere öffnen. Unter den elf Büchern sind acht original deutschsprachige (siehe Literaturliste) Bände – es gibt Wieder- und Neuentdeckungen, man findet Klassiker und konzeptionell Überraschendes. Die Themen reichen von der Verortung in der Welt über Kinderalltag und Gedanken und Gefühle bis zu Natur und Tieren, die seit vielen Jahren ein Dauerbrenner in der Kinderlyrik sind.

Alle Bücher zeigen ein großes Vertrauen in Sprache – das Gedicht der Österreicherin Lena Raubaum mit dem Titel „Was Worte alles können“ steht hier pars pro toto. Mit dem Vertrauen in Sprache geht eine große Freude „an“ Sprache einher: an Nonsens, an Sprach- und Lautwitz, Klängen, Assonanzen und Reimen. Die Tonlage der Bücher ist oft komisch und witzig, manchmal auch nachdenklich-melancholisch und nicht selten gibt es überraschende Pointen und Aha-Momente. Alle Bücher sind illustriert, was weitere Ebenen des Zusammenspiels einzieht und zusätzliche Ausdeutungsräume eröffnet.
 

Gutzschhahn, Guggenmos © Aladin, © Beltz

In der Pizzakatze wird Will Gmehlings grooviger Text voller Binnen- und Endreime von Antje Damm charmant ins Bild gesetzt: Die Hauptfigur kurvt lässig auf ihrer Vespa in der Stadt herum und liefert Pizza an alle aus, da wirklich jede:r in den Reim „Pizza ist mein Leibgericht, / ohne Pizza kann ich nicht“ einstimmen kann. Auch Arne Rautenberg und Nils Mohl haben ein Faible für Tiere: In Mut ist was Gutes balanciert u.a. eine Gans seiltanzend hoch über der Stadt, ein Schweinchen springt übermütig ins Wasser oder Eule und Hase geben Gas auf einem Fahrrad. Arne Rautenberg, der zu den bekanntesten und beliebtesten deutschsprachigen Kinderlyrikern zählt, hat in diesem Buch Verse zu bereits vorliegenden Bildern von Wolf Erlbruch gedichtet, auf die er mal direkt und unmittelbar Bezug nimmt, mal freier und assoziativer. In Tierische Außenseiter. Reime über unknuddelige Große wie Kleine mit und ohne Beine ist der Titel Programm: Spinnen, Quallen und Kellerasseln werden schließlich selten mit dem Prädikat „niedlich“ belegt. Doch in Nils Mohls Versen und Katharina Greves Illustrationen ins Rampenlicht gerückt, zeigt sich: Auch diese Tiere haben Potenzial! Das Buch besticht nicht nur durch seine ungewöhnlichen Protagonisten, sondern auch durch seine Formenvielfalt, die Anleihen bei der visuellen Poesie macht. Ein Hybrid aus „Gedichtsammlung“ und „Mitmachbuch“ ist hingegen Es flattert und singt von Antonie Schneider, Marion Goedelt und Christine Knödler. Neben Obst und Gemüse treten die Hühner Helena und Hannibal auf, sinnieren metapoetisch übers Dichten und geben Tipps fürs Verseschmieden. Wie sehr Gedichte dabei helfen können, sich selbst in der Welt zu verorten, zeigen Lena Raubaum und Katja Seifert in Mit Worten will ich dich umarmen. Die Texte spiegeln kindliches Erleben und sparen auch widerstreitende Emotionen oder schwierige Gefühle wie Wut nicht aus.

In (kinder-)lyrische Traditionen reihen sich Finn-Ole Heinrichs, Dita Zipfels und Tine Schulz’ Schlafen wie die Rüben und Uwe-Michael Gutzschhahns Dunkel war’s der Mond schien helle ein: Im „Rübenbuch“ werden Einschlafreime und das klassische Sujet „Zu-Bett-gehen“ anarchisch gegen den Strich gebürstet, denn wilde, lustvolle und überbordende Verse und Bilder brechen hier die klar durchkomponierte Choreographie des „knallefeste[n] Ritual[s]“ auf.

Auf Initiative von Kinderlyrik-Tausendsassa Uwe-Michael Gutzschhahn haben neben ihm selbst zehn weitere Dichter:innen das anonyme Nonsens-Gedichts Dunkel war’s der Mond schien helle weitergedichtet. Niemand (bis auf U.M. Gutzschhahn) weiß, welche der nun 34 Strophen von wem stammt. Illustriert wurde das ungewöhnliche Projekt von Jens Rassmus, der auf jeder Doppelseite die lyrisch evozierten Paradoxa meisterhaft ins Bild setzt. In naturlyrische Kontexte hat sich Josef Guggenmos eingeschrieben: Der Dichter, der 2003 starb, lief in seiner Allgäuer Heimat täglich über Felder und Wiesen und hörte Vögeln und Insekten zu. Die Verbundenheit mit der Natur prägte sein Selbstverständnis und war wichtige Inspirationsquelle für sein poetisches Schaffen: In wenigen Zeilen verdichtet er genaue Beobachtungen und sinnliches Erleben, was die wesentlichen Aspekte des Daseins erschließt und zudem oft eine metaphysische Dimension aufblitzen lässt. In dem Band Es flüstert & rauscht wurden seine Gedichte von verschiedenen Künstler:innen illustriert: mal im ganzseitigen, zarten Aquarell, mal mit knalligem Buntstift, mal in Comic-Form – immer überraschend und nie langweilig.

Nie langweilig – so lässt sich die deutschsprachige Kinderlyrik-Szene der Gegenwart charakterisieren, denn „deutschsprachige Kinderlyrik heute“ ist so vielfältig wie seit langem nicht. Spürbar ist die Lust am Experiment und poetischen Spiel, an Sprache und an einem „aus alt mach neu“. Ausdrücklich meint dies neben der textlichen auch die illustrative Seite: Frische, moderne Illustrationen im Comic- oder Karikatur-Stil verleihen Gedichten einen sofort erkennbaren lässigen Touch – die Lust auf Lyrik kommt da oft von ganz allein. Die Grenzen zwischen einzelnen Genres werden durchlässig, was ein Gewinn für die Kinderlyrik ist, denn schnell stellt man fest, dass mehr Poesie in der Welt ist, als man vielleicht zunächst annehmen würde. Ein Indikator dafür ist, dass für die LYEfK nicht nur Bücher aus Verlagen vorgeschlagen werden, die als etablierte Kinderlyrik-Verlage gelten wie Peter Hammer oder Tyrolia. Vielmehr entdeckt man bei genauerem Hinsehen auch dort Lyrik, wo man sie nicht unbedingt vermutet hätte. Das kann nur eines bedeuten: Die Poetisierung der Welt schreitet voran. Gut so.

Dr. Ines Galling ist Lektorin für deutschsprachige und skandinavische Kinder- und Jugendliteraturen in der Stiftung Internationalen Jugendbibliothek. Sie konzipiert u.a. Veranstaltungen, Lesungen und Ausstellungen, kümmert sich um den Bestandsaufbau, die White-Ravens-Auswahl und ein wenig instagram, koordiniert u.a. die Lyrik-Empfehlungen für Kinder und schreibt Artikel und Rezensionen für u.a. 1001 Buch, JuLit oder Dein Spiegel.

Erwähnte Bücher:
  • Gmehling, Will: Pizzakatze. Illustriert von Antje Damm. Wuppertal: Peter Hammer 2023.
  • Guggenmos, Josef: Es flüstert & rauscht. Naturgedichte für Kinder. Hrsg. von Stefanie Schweizer. Illustriert von Pia Valär, Max Fiedler, Jonas Lauenströer u.a. Nachwort von Arne Rautenberg. Weinheim: Beltz & Gelberg 2022.
  • Gutzschhahn, Uwe-Michael (Hrsg.): Dunkel war’s, der Mond schien helle. Weitergedichtet von Paul Maar, Heinz Janisch, Uwe-Michael Gutzschhahn u.a. Illustriert von Jens Rassmus. Stuttgart: Thienemann-Esslinger 2023.
  • Heinrich, Finn-Ole / Zipfel, Dita: Schlafen wie die Rüben. Illustriert von Tine Schulz. Hamburg: Huckepack im Mairisch Verlag 2021.
  • Mohl, Nils: Tierische Außenseiter. Reime über unknuddelige Große wie Kleine mit und ohne Beine. Illustriert von Katharina Greve. Innsbruck: Tyrolia 2023
  • Raubaum, Lena: Mit Worten will ich dich umarmen. Illustriert von Katja Seifert. Innsbruck: Tyrolia 2021.
  • Rautenberg, Arne: Mut ist was Gutes. Illustriert von Wolf Erlbruch. Wuppertal: Peter Hammer Verlag 2023.
  • Schneider, Antonie: Es flattert und singt. Gedichte und mehr und alles für Kinder. Illustriert von Marion Goedelt. Hrsg. von Christine Knödler. München: dtv 2020.

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