Buchmarkt
Gezeichnete Spurensuchen in der deutschen Geschichte

Yelin, Dahmen, Amini, Feuchtenberger
© Reprodukt, © Carlsen, © Carlsen, © Reprodukt

Die wichtigsten deutschsprachigen Comics und Graphic Novels 2024

von Ralph Trommer

Das vergangene Jahr zeichnet sich durch eine Fülle anspruchsvoller Neuerscheinungen deutscher Comiczeichnerinnen und -zeichner aus. Graphic Novels nehmen mittlerweile einen wichtigen Platz auf dem deutschen Buchmarkt ein. Auch das Interesse der Leserschaft wächst kontinuierlich, da sich im Comic Unterhaltung, Wissensvermittlung und anspruchsvolles Erzählen nicht ausschließen. Das Spektrum reicht quer durch alle Genres, vom Krimi über Literaturadaptionen, autobiografisch inspirierte Graphic Novels bis hin zu historischen Aufarbeitungen von Zeitzeugenschaften.

Der 1971 geborene Zeichner Tobi Dahmen hat mit „Columbusstraße“ (Carlsen Verlag) ein ebenso persönliches wie ehrgeiziges Projekt verwirklicht: die Erlebnisse der eigenen Familie in der Nazi-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg in Form einer Graphic Novel zu erzählen. Zentraler Schauplatz ist das Geburtshaus der Familie in der Columbusstraße im bürgerlichen Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel, in dem Karl-Leo Dahmen (Vater des Zeichners) als Jüngster von drei Söhnen eines katholisch geprägten Ehepaars aufwuchs. Tobi Dahmen erzählt eindringlich, wie sich deren Leben unter den Nazis und während des Zweiten Weltkrieges änderte und wie auch seine regimekritische Familie sich arrangieren musste, um zu überleben. Parallel dazu wird auch das Schicksal der Familie Funcke in Breslau erzählt, der die Mutter entstammt. Tobi Dahmen zeichnet seine Familiengeschichte in Grautönen und gibt ihr epischen Raum, sodass diese finstere Zeit heutigen Leserinnen und Lesern eindringlich veranschaulicht wird.

In ihrer Graphic Novel „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ (Reprodukt Verlag) porträtiert die Zeichnerin Barbara Yelin eine Überlebende der Shoah. Um deren ganzes Leben darstellen zu können, hat sie sich immer wieder mit ihr getroffen – über drei Jahre lang, in Deutschland und in Israel. Die Jüdin Emmie Arbel wurde 1937 in Den Haag geboren und 1942 von den Nazis deportiert, erst nach Ravensbrück, dann nach Bergen-Belsen. Ihre Eltern und Großeltern starben in den Lagern, während sie und ihre beiden Brüder überlebten. Nach dem Krieg wächst sie bei Pflegeeltern in den Niederlanden auf, erfährt dort erneut Gewalt. Die Großfamilie wandert dann nach Israel aus, doch auch im Kibbuz fühlt sich Emmie nicht zuhause. Erst als Erwachsene gelingt ihr ein unabhängiges Leben. Mit 40 Jahren arbeitet sie die Vergangenheit auf: Ihre traumatischen Erfahrungen hatte sie lange verdrängt. Seit Jahrzehnten spricht sie nun als Zeitzeugin über ihre Erlebnisse. Barbara Yelin zeichnet ihre Geschichte in lockerer, skizzenhafter Weise. Fast unmerklich wechselt sie zwischen Gegenwart und erzählter Vergangenheit, sodass Emmie Arbels Schicksal unmittelbar berührt. Die Graphic Novel wurde bereits mehrfach ausgezeichnet (Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher 2024, Max und Moritz-Preis 2024: Spezialpreis der Jury).

Eine faszinierend andere Kultur lernt man in Maren Aminis erster Graphic Novel „Ahmadjan und der Wiedehopf“ (Carlsen Verlag) kennen. Es ist die Lebensgeschichte ihres in Afghanistan geborenen Vaters Ahmadjan, ein Künstler, dessen eigene Bilder auch im Buch auftauchen. Mit leichtem Strich und in buntem Aquarell zeichnet Maren Amini seine Kindheit in Afghanistan, seine Ankunft in der BRD 1972, seinen Weg als Künstler, die Heirat mit einer Deutschen und sein Hin- und Hergerissensein zwischen den Kulturen. Der Zeichnerin dient die 800 Jahre alte persische Dichtung der „Konferenz der Vögel“ von Fariduddin Attar als inhaltlicher Anker, der der Graphic Novel zugleich eine märchenhaft-poetische Note verleiht.
 

Hommer, Kleist, Ross, Vieweg © Reprodukt, © Carlsen, © Avant, © Carlsen

Die Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger hat mit „Genossin Kuckuck“ (Reprodukt Verlag) so etwas wie das Opus Magnum ihres bisherigen Schaffens vorgelegt. Mit diesem Werk wurde erstmals ein Comic in der Kategorie „Belletristik“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Feuchtenberger bezeichnet das Werk, an dem sie etwa 14 Jahre arbeitete, als „Bilderzählung“. Meist zeichnet sie mit Bleistift und Kohle. Eine lineare Handlung gibt es nicht, stattdessen werden Episoden aus dem fiktiven Dorf Pritschitanow in Vorpommern erzählt, die um die zentrale Figur Kerstin – Alter Ego der Autorin – kreisen. Ihre Geschichte beginnt im Kindesalter in den 1960er Jahren und führt zu Episoden, die Kerstin als Pubertierende und schließlich Anfang der 90er Jahre als Erwachsene zeigen. Der Übergang vom Realistischen ins Phantastische geschieht meist fließend. Reale Erinnerungen an die sozialistische Erziehung in der DDR und die Prägung durch ihre strenge Großmutter wechseln mit märchenhaften Szenen und grotesken Alpträumen, in denen Mischwesen aus Pflanze, Tier und Mensch auftreten.

Leichter konsumierbar sind die Werke Olivia Viewegs. In ihrer jüngsten Graphic Novel „Fangirl Fantasy“ (Carlsen Verlag) wirft sie einen humorvollen Blick auf weibliche Fankulturen. Sie erzählt vom fiktiven britischen Filmschauspieler Allan Dale, der eines Tages von drei weiblichen Fans in den thüringischen Wald entführt wird. Die drei Fans wollen ihn dort zwingen, jene Lieblingsrollen aus verschiedenen Genres, die er längst aufgegeben hat, für sie weiterzuspielen… Der selbst aus Thüringen stammenden Olivia Vieweg gelingt mit ihrer überwiegend in violetten Tönen gehaltenen Graphic Novel eine amüsante Satire auf den internationalen Film- und Fernsehbetrieb. Dabei mixt sie die Stilmittel europäischer Comics mit denen japanischer Mangas.

In seiner neuesten Graphic Novel „Der verkehrte Himmel“ (Avant Verlag) greift Mikael Ross ebenfalls auf Manga-Elemente zurück, etwa bei der Mimik seiner Figuren und durch das bewusste Setzen auf Schwarzweiß. Diesmal gelingt ihm ein rasanter, stimmungsvoller Krimi über drei Jugendliche, die in Berlin-Lichtenberg in ein Verbrechen hineingezogen werden: Eine Vietnamesin wurde von Menschenhändlern ermordet. Seine actionreiche Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten. Zugleich ist sie eine gelungene Milieustudie über Teenager in Lichtenberger Schulen, vietnamesische Einwanderer und gegenseitigen Respekt.

Sascha Hommer erschafft mit „Das kalte Herz“ (Reprodukt Verlag) eine dichte Nacherzählung des romantischen Märchens von Wilhelm Hauff um den naiven Kohlenbrenner Peter Munk, der seine Seele verkauft, um seine Armut zu beenden. Der Zeichner setzt subtil Akzente, um den altdeutschen Stoff zu modernisieren, wenn er etwa aus dem Glasmännlein ein Glasweiblein macht. Er überzeugt durch seine stimmungsvolle Grafik, in der eine vergangene Zeit realistisch und zugleich leicht verzaubert aufersteht. In Hommers Adaption funktioniert Hauffs Märchen auch heute noch als kluge Parabel auf die Gier im Zeichen des frühen Kapitalismus.

Reinhard Kleist gilt schon lange als herausragender Vertreter der Graphic Novel in Deutschland. Musikerbiografien haben es ihm angetan, wie frühere Bücher über Nick Cave und Johnny Cash belegen. Mit „Low – David Bowie´s Berlin Years“ (Carlsen Verlag) knüpft er an seine 2021 erschienene Graphic Novel „Starman“ an, in der Bowies frühe „Ziggy Stardust“-Jahre im Zentrum stehen. Diesmal geht es um die Zeit, in der David Bowie Mitte der 1970er Jahre im eingemauerten Berlin wohnte, seine Zeit mit Iggy Pop und Romy Haag verbrachte und zusammen mit Brian Eno einige seiner stärksten Alben schuf. Eine vielschichtige Charakterstudio in poppiger Farbigkeit, in der Kleist seine ganze Meisterschaft als Zeichner wie als Erzähler zeigt. Das Buch schafft es, den Zauber von Bowies Musik auch Menschen nahezubringen, die seine Musik noch nicht kennen.

Ralph Trommer, Dipl. Animator, freier Autor und Künstler, schreibt für verschiedene Medien regelmäßig Rezensionen und Fachartikel über Comics, Graphic Novels und Filme.

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