Heike Behrend Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung
- Matthes & Seitz Verlag
- Berlin 2020
- ISBN 978-3-95757-955-3
- 278 Seiten
- Verlagskontakt
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen
Die Ethnologin Heike Behrend macht sich in Afrika zum Affen
Es könnte damit zusammenhängen: Heike Behrend liefert in ihrem Buch gleich mehrere Dinge: Sie erzählt eine an zahlreichen Beispielen nachvollziehbare Fachgeschichte, die von den Anfängen einer patriarchalischen „Lehnstuhlethnologie“ elegant hinüberleitet zu den Helden der teilnehmenden Beobachtung und schließlich abbiegt zu den eigenen Erfahrungen im Feld, das der Forscherin vor allem eines immer wieder zeigte: Nicht nur die Fremden sind fremd, sondern auch man selbst ist den Fremden ein Fremder.
Bronislaw Malinowski, Franz Boas oder Margaret Mead sind wichtige Namen. Sie haben mit ihren teilnehmenden Untersuchungen viel für das Fach und noch mehr für die Liberalisierung des Denkens über das Andere beigetragen. Dennoch, so gibt Heike Behrend zu bedenken, blieb das Verhältnis von Forschendem und Beforschtem immer ein hierarchisiertes. Stets war klar: Hier steht die westliche moderne Wissenschaft dem vormodernen Ritus und seinen Protagonisten gegenüber, um sie zu beschreiben.
Jahrzehnte lang hat Behrend selbst zu verschiedenen kulturellen Phänomenen gearbeitet: zu Besessenheitskulten in Uganda, zu fotografischen Praktiken in Ostafrika und zum Zeitverständnis in den Kenianischen Tugenbergen. Darin wollte sie den großen monografischen Berichten der Meister ihres Fachs folgen. Waren die Pioniere der Feldforschung jedoch mit heroischem Gestus aus ihren Forschungszusammenhängen hervorgegangen, schreibt Heike Behrend von den Sackgassen, in die sie ihr „Wille zum Wissen“ manövriert hat. Ende der siebziger Jahre war die Doktorandin nach Afrika gefahren, um dort dem Ideal einer „Rettungsethnologie“ zu folgen, also der Idee einer Ursprünglichkeit jenseits der Moderne nachzujagen. Im Feld demaskiert sie das Ursprüngliche als romantische Vorstellung. „Zu Beginn der 1980er-Jahre", schreibt Behrend, „begannen Ethnologen zu erkennen, dass sie die afrikanischen Gesellschaften nicht nur ‚verandert’, also exotischer gemacht hatten, als sie waren. Sie hatten sie auch in eine Vorzeit gesteckt und ihnen damit (...) die Gleichzeitigkeit im Raum verweigert. Sie erklärten die Gesellschaften Afrikas zu traditionellen, vormodernen Gesellschaften, obwohl sie spätestens seit dem transatlantischen Sklavenhandel in die globale kapitalistische Weltordnung integriert worden waren.“
Die Ethnologin muss bei ihren eigenen Forschungsprojekten einsehen: Sie ist nicht Souverän über ihren Forschungsgegenstand. Nicht einmal Souverän über das eigene Selbstbild. Wegen ihrer offen getragenen Haarmähne und ihren Verstößen gegen lokale Schicklichkeitsgebote wird sie von den Tugen lange Zeit als Affe verlacht. „Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur mein Haar, sondern meine ganze Person als hässlich empfunden wurde.“ Der Affe, so Heike Behrend, sprang in der langen Geschichte kolonialer Begegnungen hin und her zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Nun ist es die Ethnologin, die sich vor den Fremden, die sie eigentlich beschreiben will, zum Affen macht.
Allerdings zu einem „Affen mit Aufstiegschancen“. Denn im Laufe der Zeit gewinnt Behrend den Respekt der Gemeinschaft und darf an verschiedenen Initiationsritualen teilnehmen. Ihre Forschung „gehörte“ ihr allerdings zu keinem Zeitpunkt. Denn auch die Ethnografierten hatten ihre Agenda. Beispielsweise waren die Dorfältesten auch deswegen so mitteilsam, weil sie im Zuge der afrikanischen Moderne, die auch vor den Tugenbergen nicht Halt gemacht hatte, einen Autoritätsverlust zu beklagen hatten. Das Interesse einer der wichtigsten Institutionen der westlichen Moderne, der Universität, ist also auch von Nutzen für den Machterhalt der alten Stammeseliten. Im Licht der allgemeinen Interessenspolitik betrachtet, verändert so manche „Information“ also noch einmal ihren Charakter.
War der persönliche Einsatz in den Tugenbergen noch mit überschaubaren Risiken für die Ethnologin verbunden gewesen, muss Heike Behrend Jahre später in Uganda die Fiktion einer objektiven Ethnografie gänzlich aufgeben. Bei der Erforschung eines Besessenheitskults während der Aidskrise mit Jagden auf sogenannte Kannibalen erlebt Behrend dreierlei: die Brutalisierung des Phänomens unter dem Einfluss der katholischen Kirche; die eigene Stigmatisierung als vermeintliche Kannibalin und trotz aller Beteuerungen, dass es in Europa keinen Kannibalismus gebe; das Auftauchen eines Mannes, der als Kannibale von Rothenburg weltweit Berühmtheit erlangen sollte.
Bei Behrend kann man die Biografie einer akademischen Disziplin im laufenden Experiment nachvollziehen. Denn in den achtziger Jahren setzt ein kritisches Denken über interkulturelle Aneignung ein, das sich heute in Diskussionen um die Restitution von Raubkunst oder um Kinderbuchklassiker von überholtem Zeitgeist fortsetzen.
Die Rolle von Beobachter*in und Beobachtetem wird heute selbstverständlich in die Forschungsfragen von Ethnografien einbezogen. Hatte Malinowski mit seiner berühmten Monografie „Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien“ noch die Haltung vertreten, der Ethnograf sei der Experte seiner Fremd-Gesellschaft, so erschien in 1990ern als Replik auf diesen Anspruch ein Sammelband, der „The Sexual Life of Anthropologists“ zum Thema hatte. Er war wohl ziemlich öde, seufzt Heike Behrend.
Nicht zuletzt wegen seiner ausgesprochen wohltuenden Bescheidenheit, sticht Behrends Buch in diesem Sachbuchjahr hervor: Mit einer Arbeit über Zeitvorstellungen bei den Tugen in Kenia promoviert Heike Behrend Ende der Achtziger an der FU in Berlin. Ihrem Übersetzer Naftali Kipsang schickt sie ein Exemplar. Lange bleibt sie ohne Antwort. „Dann kam ein Brief, in dem er mir für das Buch dankte. Er schrieb, in den Tugenbergen habe eine große Dürre geherrscht, und weil alle so hungrig gewesen seien, habe eine Ziege mein Buch gefressen.“

Von Katharina Teutsch
Katharina Teutsch ist Journalistin und Kritikerin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Tagesspiegel, die Zeit, das PhilosophieMagazin und Deutschlandradio Kultur.
Inhaltsangabe des Verlags
Ein tiefschürfender und selbstkritischer Beitrag zur Debatte über das Fremde
Heike Behrend studiert Ethnologie in den politisch bewegten Sechzigerjahren; ihre erste Feldforschung führt sie Ende der Siebzigerjahre in die kenianischen Tugenberge; Mitte der Achtzigerjahre begibt sie sich auf die Spuren der Holy-Spirit-Bewegung im Norden Ugandas. Während der Aids-Epidemie arbeitet sie über die katholische Kirche in Westuganda, und schließlich erforscht sie an der kenianischen Küste die lokalen Praktiken von Straßenfotografen und Fotostudios. Diese Autobiografie der ethnografischen Forschung erzählt keine heroische Erfolgsgeschichte, sondern berichtet von dem, was in den herkömmlichen Ethnografien meist ausgeschlossen wird – die unheroischen Verstrickungen und die kulturellen Missverständnisse, die Konflikte, Fehlleistungen sowie Situationen des Scheiterns in der Fremde. So lädt dieses Buch zu einem freimütigen Blick auf die Ethnologie als Poetik sozialer Beziehungen ein. In den wenig schmeichelhaften Namen – »Affe«, »Närrin« oder »Kannibale« –, die der Ethnologin in Afrika gegeben wurden, wird sie mit fremder Fremderfahrung konfrontiert und muss sich fragen, welche Wahrheit diese Bezeichnungen zum Ausdruck bringen, welche koloniale Geschichte sie erzählen und welche Kritik sie an ihrer Person und Arbeit üben. Mit dem Bericht über vier ethnografische Forschungen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren reflektiert Heike Behrend auch die Fachgeschichte der Ethnologie und die Veränderungen des Machtgefüges zwischen den Forschenden und den Erforschten, die sie am eigenen Leib erfährt.
(Text: Matthes & Seitz Verlag)