Annika Scheffel Alle Farben von Licht
- Carlsen Verlag
- Hamburg 2024
- ISBN 978-3-551-58565-3
- 480 Seiten
- Verlagskontakt
Für diesen Titel bieten wir eine Übersetzungsförderung ins Polnische (2025 - 2027) an.
Behutsam und intensiv – Annika Scheffels erster Jugendroman „Alle Farben von Licht“
Als Rio in Mavis Zimmer eine Kamera mit einem noch unentwickelten Film findet, beschließt er, die Orte und Menschen zu besuchen, die auf den Bildern zu sehen sind. Die Spurensuche führt Rio zu ungewöhnlichen Menschen und Orten – zu einer Geisterbahn im Keller eines Einkaufszentrums, in ein Tattoo-Studio, auf ein Hausboot. Rio entdeckt Seiten an Mavis, die er nicht kannte. Die Reise in die Vergangenheit ist kräftezehrend, aber auch schön.
Schön, weil er auf der Suche von „Dracula“ begleitet wird – dem schmalen Jungen aus dem Hinterhaus, den Rio unter „Freak“ abgespeichert hatte. Doch nachdem er „Dracula“, der Franz heißt, erst widerwillig mitgenommen hat, merkt Rio, was für ein toller Mensch Franz ist. Er ist einfühlsam, kann zuhören und an den richtigen Stellen schweigen. Erst freunden die beiden sich an, dann verlieben sie sich ineinander. Endlich leuchtet wieder etwas in Rios Leben. Doch dann findet Rio heraus, dass Franz Mavis nicht nur kannte, sondern ihr auch die heruntergekommene Fabrik gezeigt hat. Er ist zutiefst verstört. Was hat Franz ihm verschwiegen? Ist Franz schuld an Mavis’ Tod? Was will er eigentlich von ihm? Rio fühlt sich belogen, hintergangen und benutzt.
Kurz darauf bricht Rio vor Erschöpfung zusammen. Nach einigen Tagen im Koma kämpft er sich zurück ins Leben: Umsorgt von seinen Eltern, von seinen Freunden, von einem Psychologen, von den Nachbarn. Endlich kümmern sich alle so, wie Rio es braucht.
Und Franz? Rios Kindergartenfreund Flip weiß, wie sehr Rio ihn trotz allem vermisst, und vermittelt ein Gespräch, in dem Franz alles erklären kann: Nicht er hat Mavis die Fabrik gezeigt; sie kannte sie schon, weil die Katze aus dem Hinterhof dort herumstreunte. Mavis ist wahrscheinlich durch das Dach gestürzt, als sie versucht hat, sie zu fotografieren.
„Alle Farben von Licht“ ist ein dichter Roman über Trauer und Verlust, über Einsamkeit, Beistand, Zuneigung und Trost. Es ist ein Coming-of-Age-Roman, eine Liebesgeschichte, ein Trauerroman, ein Erinnerungsroman von großer Glaubwürdigkeit. Weil die Geschichte in Berlin spielt, erzählt das Buch en passant auch vom Leben in der Großstadt, von den bunten Bewohner*innen und der besonderen Sommergroßstadtatmosphäre. Nicht zuletzt dieses „Sommer-in-der-Stadt-Gefühl“ verleiht dem Roman trotz der Schwere viel Leichtigkeit.
Die Geschichte nimmt sich Zeit, was Rios Trauerprozess und das langsame Herausarbeiten aus dem dunklen, tiefen Loch spiegelt. Das Verweben von Trauer und erster Liebe wirkt nicht überladen, sondern zeugt von einer durchkomponierten Dramaturgie und schafft zusätzliche emotionale Dichte.
Annika Scheffels Buch erinnert an die Romane des US-Amerikaners John Green, doch wo John Green manchmal pathetisch und kitschig wird, bleibt Annika Scheffel wahrhaftig: Denn sie findet für Traurigkeit, Ängste, Schuld, Scham, für Verliebtheit, körperliche Nähe und Freundschaft eine sehr gegenwärtige, intensive, empathische und zugleich leichtfüßige Sprache. Mit ihren Figuren geht sie sehr behutsam um, sie ist im personalen Erzählen sehr nah an Rio und seinen stetig kreiselnden Gedanken, seinen vorgestellten Gesprächen mit Mavis, seinem Kummer, seinen Sorgen, seinen Wünschen, seinem Hin- und Hergerissensein, seinen Zweifeln, seinem schlechten Gewissen. Man möchte Rio mehr als einmal in den Arm nehmen und trösten. Auch Franz und Rios andere Freund*innen sind vielschichtig und nahbar, Annika Scheffel beherrscht verschiedene Tonlagen und Stimmen und zeichnet die Figuren sehr individuell. Auch die Dialoge inklusive der Chats sind echt und lebensnah, nie gestelzt oder anbiedernd.
„Alle Farben von Licht“ ist Annika Scheffels erster Jugendroman, sie hat bisher Romane und Theaterstücke für Kinder und Erwachsene (erschienen u.a. bei Suhrkamp) geschrieben. In ihrer „Solupp-Kinderbuchreihe“ (Thienemann-Esslinger) mischt sie Bullerbü mit Abenteuer sowie einem Hauch surrealer Mystery. „Alle Farben von Licht“ wurde vom Deutschen Literaturfonds gefördert und im deutschen Feuilleton sehr positiv besprochen.
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Von Ines Galling
Ines Galling arbeitet als Lektorin für deutschsprachige und skandinavische Kinder- und Jugendliteratur in der Internationalen Jugendbibliothek in München, wo sie sich unter anderem um den Bestandsaufbau kümmert. Sie schreibt Artikel und Rezensionen für Fachzeitschriften und Empfehlungskataloge. Von 2012 – 2014 war sie Mitglied in der Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises.
Inhaltsangabe des Verlags
Ein außergewöhnlicher Sommer voller Verlust und Liebe
Es sind Ferien und Rios Freunde haben viel vor, schließlich soll es ein unvergesslicher Sommer werden. Rio macht mit, aber spätestens, als er auf dem Fünfer im Schwimmbad eine Panikattacke bekommt, ist klar, dass es nicht funktioniert. So sehr er sich auch abmüht: Er ist kaputt und der Sommer auch. Denn im letzten Juni ist Rios Zwillingsschwester Mavis gestorben. Ein tragischer Unfall, heißt es.
Doch dann findet Rio ihre alte Kamera und macht sich zusammen mit Dracula, dem Jungen aus dem Hinterhaus, auf die Reise quer durch die hitzekeuchende Stadt und folgt Mavis' fotografischen Spuren. Rio und Dracula, der eigentlich Franz heißt, gelangen an Orte, die niemand mehr auf dem Schirm hat: den verwilderten Park, den einsamen, brackigen See, das unheimliche Gruselkabinett. Die beiden lernen eine Mavis kennen, die ganz anders war, als Rio dachte und die Geheimnisse hatte, größer als das Tropical Island.
Während Rio und Franz an den schaurig-schönen Rändern ihrer bekannten Welt entlangbalancieren, werden sie Freunde. Richtig gute. Und Rio merkt, dass da mehr ist, dass er beginnt, sich in Franz zu verlieben. Aber: Darf Rio das? Darf er einen Sommer genießen, den Mavis nicht mehr erleben kann? Darf er, wenigstens zwischendurch mal, ganz heimlich, das warme Licht, die orangepinken Abende, das Herzhochhüpfen ganz wunderbar finden? Und: mag Franz ihn überhaupt auch? Also, so?
(Text: Carlsen Verlag)