Bücherwelt
Zerocalcare und Mawil

von Lukas Elstermann
Zerocalcare und Mawil sind Comickünstler aus Berlin und Rom. Beide sind Stimmen ihrer Generation, beide zeichnen in ihren Comics ein raues, aber doch liebevolles Porträt einer Weltmetropole abseits der Touristenattraktionen. Ein Doppelporträt zweier Künstler, die vom alltäglichen Leben in der Großstadt erzählen.
Zerocalcare heißt eigentlich Michele Rech (geboren 1983) und ist Sohn einer französischen Mutter und eines italienischen Vaters. Als Kind zog er nach Rom, in den nord-östlichen Randbezirk Rebibbia, der vor allem wegen seines gleichnamigen Gefängnisses bekannt ist.
Seit 2011 veröffentlicht Zerocalcare autobiografische Comicgeschichten, in denen er von seinem Leben in einer einfachen Plattenbauwohnung in Rebibbia erzählt. Hauptfigur seiner Comics ist er selbst: “Zero”, der schlecht gelaunte junge Mann mit dem Totenkopf-Shirt, der ständig an sich selbst zweifelt, keine feste Arbeit hat und nie einen Weg ins Leben und in die Liebe findet, ist zur Kultfigur und zum Symbol einer ziellosen Generation geworden. Seine Netflix-Animationsserie “Strappare lungo i bordi”, auf Deutsch “An der perforierten Linie abreißen” (2021), die ebenfalls von seinem von Zukunftsängsten geprägten Leben in Rebibbia handelt, ist einer der meistgesehene Titel der Streaming-Plattform. In Deutschland ist sie im Original mit deutschen Untertiteln verfügbar.
Die gewaltsamen Auseinandersetzungen um den G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 haben Zerocalcare geprägt. Neben seinen Alltagsgeschichten schreibt er politische Comics, in denen er Rassismus, Ungerechtigkeit und Polizeigewalt thematisiert. Für seine gefeierte Graphic Novel “Kobane Calling” (Bao Publishing, 2016) reiste er an die türkisch-syrische Grenze und berichtet vom Leben und vom Widerstand gegen den Islamischen Staat. “Kobane Calling” ist, wie viele seiner Comics, ein Appell an die Solidarität. Auf Deutsch ist die Graphic Novel 2017 beim Avant Verlag erschienen.
Doch Rebibbia bleibt das Zentrum von Zerocalcares Welt; in seiner neuesten Graphic Novel “Niente di nuovo sul fronte di Rebibbia” (Bao Publishing, 2021), also “In Rebibbia nichts Neues”, schildert der Zeichner den Lockdown im Randbezirk. Er zeichnet Rom, wie es wirklich ist. Der Müll auf den Straßen und das Graffiti an den Häuserwänden gehören schließlich ebenso zur Stadt wie das Kolosseum oder die Spanische Treppe.
In seinen Geschichten wird Zero von seinem personifizierten Gewissen, einem Gürteltier, begleitet. Das erinnert natürlich an Pinocchio und seine sprechende Grille. Kein Zufall, erzählt Zerocalcare doch von einer fehlgeleiteten und rebellischen Jugend, die Anfang der 00er-Jahre unter Arbeits- und Perspektivlosigkeit leidet. Auch er kann erst seit 2015 vom Zeichnen leben, davor hat er sich mit verschiedenen Nebenjobs durchschlagen müssen.
Auch der Berliner Comiczeichner Mawil erzählt vom alltäglichen Wirrwarr der Großstadt, allerdings nicht in Rom, sondern in Berlin.
1976 in Ost-Berlin als Markus Witzel geboren, schreibt und zeichnet Mawil bereits seit drei Jahrzehnten Coming-of-Age-Geschichten über liebenswerte Versager, die nie ganz dazugehören und am Ende nie das angebetete Mädchen bekommen. Sein Debüt “Wir können ja Freunde bleiben” (Reprodukt, 2003) handelt von der ersten Liebe und dem Leben in einer Plattenbausiedlung. Sein Durchbruch kam mit der Graphic Novel “Kinderland” (Reprodukt, 2014). Die Geschichte über eine Kindheit in den letzten Jahren der DDR, inspiriert von der eigenen Biografie, wurde 2014 mit dem wichtigsten Comicpreis Deutschlands, dem Max und Moritz-Preis, ausgezeichnet.
Genau wie Zerocalcare interessiert sich Mawil für die Alltäglichkeiten der großen Stadt, für das Kaffeetrinken bei der Oma, das Warten an der Bushaltestelle, die Kinder an der Tischtennisplatte. Und ebenso wie Zerocalcare schreibt er im Dialekt. In Kinderland wird berlinert: “Kannick ooch ma?” In “Strappare lungo i bordi” fragt Secco, Zeros bester Freund, in nahezu jeder Folge: “Annamo a pija’ un gelato?”, eine Redewendung, die einem in Rom mittlerweile überall begegnet, als Graffiti an Fassaden und in Gesprächen auf der Straße. Korrekt müsste es “Andiamo a prendere un gelato?” heißen, auf Deutsch “Gehen wir ein Eis essen?” Zerocalcare schreibt im Dialekt der römischen Randbezirke. Anders als Berlin hat Rom viele verschiedene Dialekte, in Rebibbia wird anders gesprochen als in Parioli.
Mawil erzählt unaufgeregter als sein italienischer Kollege. Der Charme von Zerocalcares Geschichten beruht unter anderem darauf, seine Leserschaft direkt anzusprechen, abzuschweifen, seine Texte mit popkulturellen Referenzen auszuschmücken und ständig das eigene Gewissen zu befragen. In “Kinderland” verlässt sich Mawil dagegen ganz auf seine ausdrucksstarken Bilder: die Einsamkeit einer Haltestelle, der melancholische Blick aus dem Busfenster, die Plattenbauten, die vorbeiziehen.
Doch beide Zeichner verbindet die Liebe zu den profanen Seiten ihrer Städte, zu den unscheinbaren Orten, den Tischtennisplatten im Kiez, den Supermärkten im römischen Randbezirk, denen sie ein liebevolles Denkmal setzen. Sie wissen, dass der Alltag in der Großstadt nicht nur von Schnelllebigkeit und Sehenswürdigkeiten geprägt ist, sondern von den Mustern der Sitzbezüge im Bus, den Abenden auf der Parkbank, von den Menschen, mit denen man gemeinsam ziellos ist.
Lukas Elstermann ist freier Übersetzer und Lektor, unter anderem für englischsprachige und italienische Comics und Graphics Novels. Er lebt und arbeitet in Berlin und Rom und schreibt als freier Autor über Literatur, Comics und andere Themen der Popkultur.
Copyright: © Litrix.de
Zerocalcare heißt eigentlich Michele Rech (geboren 1983) und ist Sohn einer französischen Mutter und eines italienischen Vaters. Als Kind zog er nach Rom, in den nord-östlichen Randbezirk Rebibbia, der vor allem wegen seines gleichnamigen Gefängnisses bekannt ist.
Seit 2011 veröffentlicht Zerocalcare autobiografische Comicgeschichten, in denen er von seinem Leben in einer einfachen Plattenbauwohnung in Rebibbia erzählt. Hauptfigur seiner Comics ist er selbst: “Zero”, der schlecht gelaunte junge Mann mit dem Totenkopf-Shirt, der ständig an sich selbst zweifelt, keine feste Arbeit hat und nie einen Weg ins Leben und in die Liebe findet, ist zur Kultfigur und zum Symbol einer ziellosen Generation geworden. Seine Netflix-Animationsserie “Strappare lungo i bordi”, auf Deutsch “An der perforierten Linie abreißen” (2021), die ebenfalls von seinem von Zukunftsängsten geprägten Leben in Rebibbia handelt, ist einer der meistgesehene Titel der Streaming-Plattform. In Deutschland ist sie im Original mit deutschen Untertiteln verfügbar.
Die gewaltsamen Auseinandersetzungen um den G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 haben Zerocalcare geprägt. Neben seinen Alltagsgeschichten schreibt er politische Comics, in denen er Rassismus, Ungerechtigkeit und Polizeigewalt thematisiert. Für seine gefeierte Graphic Novel “Kobane Calling” (Bao Publishing, 2016) reiste er an die türkisch-syrische Grenze und berichtet vom Leben und vom Widerstand gegen den Islamischen Staat. “Kobane Calling” ist, wie viele seiner Comics, ein Appell an die Solidarität. Auf Deutsch ist die Graphic Novel 2017 beim Avant Verlag erschienen.
Doch Rebibbia bleibt das Zentrum von Zerocalcares Welt; in seiner neuesten Graphic Novel “Niente di nuovo sul fronte di Rebibbia” (Bao Publishing, 2021), also “In Rebibbia nichts Neues”, schildert der Zeichner den Lockdown im Randbezirk. Er zeichnet Rom, wie es wirklich ist. Der Müll auf den Straßen und das Graffiti an den Häuserwänden gehören schließlich ebenso zur Stadt wie das Kolosseum oder die Spanische Treppe.
In seinen Geschichten wird Zero von seinem personifizierten Gewissen, einem Gürteltier, begleitet. Das erinnert natürlich an Pinocchio und seine sprechende Grille. Kein Zufall, erzählt Zerocalcare doch von einer fehlgeleiteten und rebellischen Jugend, die Anfang der 00er-Jahre unter Arbeits- und Perspektivlosigkeit leidet. Auch er kann erst seit 2015 vom Zeichnen leben, davor hat er sich mit verschiedenen Nebenjobs durchschlagen müssen.
Auch der Berliner Comiczeichner Mawil erzählt vom alltäglichen Wirrwarr der Großstadt, allerdings nicht in Rom, sondern in Berlin.
1976 in Ost-Berlin als Markus Witzel geboren, schreibt und zeichnet Mawil bereits seit drei Jahrzehnten Coming-of-Age-Geschichten über liebenswerte Versager, die nie ganz dazugehören und am Ende nie das angebetete Mädchen bekommen. Sein Debüt “Wir können ja Freunde bleiben” (Reprodukt, 2003) handelt von der ersten Liebe und dem Leben in einer Plattenbausiedlung. Sein Durchbruch kam mit der Graphic Novel “Kinderland” (Reprodukt, 2014). Die Geschichte über eine Kindheit in den letzten Jahren der DDR, inspiriert von der eigenen Biografie, wurde 2014 mit dem wichtigsten Comicpreis Deutschlands, dem Max und Moritz-Preis, ausgezeichnet.
Genau wie Zerocalcare interessiert sich Mawil für die Alltäglichkeiten der großen Stadt, für das Kaffeetrinken bei der Oma, das Warten an der Bushaltestelle, die Kinder an der Tischtennisplatte. Und ebenso wie Zerocalcare schreibt er im Dialekt. In Kinderland wird berlinert: “Kannick ooch ma?” In “Strappare lungo i bordi” fragt Secco, Zeros bester Freund, in nahezu jeder Folge: “Annamo a pija’ un gelato?”, eine Redewendung, die einem in Rom mittlerweile überall begegnet, als Graffiti an Fassaden und in Gesprächen auf der Straße. Korrekt müsste es “Andiamo a prendere un gelato?” heißen, auf Deutsch “Gehen wir ein Eis essen?” Zerocalcare schreibt im Dialekt der römischen Randbezirke. Anders als Berlin hat Rom viele verschiedene Dialekte, in Rebibbia wird anders gesprochen als in Parioli.
Doch beide Zeichner verbindet die Liebe zu den profanen Seiten ihrer Städte, zu den unscheinbaren Orten, den Tischtennisplatten im Kiez, den Supermärkten im römischen Randbezirk, denen sie ein liebevolles Denkmal setzen. Sie wissen, dass der Alltag in der Großstadt nicht nur von Schnelllebigkeit und Sehenswürdigkeiten geprägt ist, sondern von den Mustern der Sitzbezüge im Bus, den Abenden auf der Parkbank, von den Menschen, mit denen man gemeinsam ziellos ist.
Lukas Elstermann ist freier Übersetzer und Lektor, unter anderem für englischsprachige und italienische Comics und Graphics Novels. Er lebt und arbeitet in Berlin und Rom und schreibt als freier Autor über Literatur, Comics und andere Themen der Popkultur.
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