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Buchcover Wolf

Übersetzungsförderung
Mit Förderung von Litrix.de auf Italienisch erschienen

Schlaflos im Sommercamp

„Wolf“ - der neue Kinderroman von  Saša Stanišić

Der Junge kommt einem bekannt vor. Und das Milieu, in das er wider Willen gerät, auch.  Man schnuppert Kiefernwaldluft, lauscht den Geräuschen des Waldes in „Wolf“, dem neuesten Kinderroman des vielfach ausgezeichneten deutsch-bosnischen Schriftstellers Saša Stanišić. Der Specht klopft, das Laub raschelt, der Kuckuck ruft, die Grille zirpt, die Mücke sticht. Der Geruch von angekokelten Lagerfeuerkartoffeln steigt einem in die Nase, das Lärmen von Kindern dringt ans Ohr. -  Eine Woche Sommercamp, irgendwo in Holzhütten in den brandenburgischen Wäldern. Man glaubt förmlich, den Sockenmief der Jungs zu riechen, die Shampooreste in den Duschen. Und natürlich den Duft aufgewärmter Dosenravioli.

Das ganze Kuddelmuddel eines Sommercamps bedrängt die Sinne der Leserinnen und Leser. Das ist bereits das erste Augenfällige an diesem Roman: die unmittelbare Präsenz des Wahrnehmbaren. Und dabei verrät einem der Ich-Erzähler seinen Namen erst ganz am Schluss. Der vielleicht dreizehnjährige Junge schildert sein Martyrium in eindringlichen Worten, als seien die, die seine Zeilen lesen, seine engsten Vertrauten. Die mit symbolträchtigen gelben Untermalungen verfeinerten Schwarzweiß-Illustrationen von Regina Kehn machen das Buch auch zum optischen Hingucker und befördern das Lesevergnügen. Gelb sind ja schließlich auch die Augen des Wolfes, der durch die Geschichte geistert.

Ja, soll er uns leidtun, dieser namenlose Bursche, der fast zu allem, was ihm begegnet, einen sarkastischen, in sanftmütigen Augenblicken einen ironischen Kommentar auf den Lippen hat? Saša Stanišić setzt uns einen Charakter vor die Nase, in dem sich Leser und Leserinnen wiederfinden können. Wiederfinden in den unsicheren Phasen ihres Lebens, in denen man mit sich selbst hadert, mit seinen Mitmenschen und mit unerwarteten Ereignissen, in die man geworfen wird. In genau eine solche Phase stellt der Autor seinen Antihelden: In die Zeit, in der man Unsicherheit und missliche Lagen mit flotten Sprüchen und schnellen Urteilen zu übertünchen versucht.

Der Junge lebt bei seiner berufstätigen und alleinerziehenden Mutter. Beide verstehen sich gut, nicht zuletzt, weil die Mutter bei allem Humor klare Ansagen macht, wenn ihr Überforderung droht. Deshalb gibt es kein Wenn und Aber bei der Entscheidung, den Sprössling eine Woche lang ins Sommercamp zu schicken. Zwar zieht der Knabe alle Register des Dagegen: Busabfahrt zur Schlafenszeit. 300 Kilometer Schaukelei. Konfrontation mit der Atemluft von 40 Gleichaltrigen. Kotzgefahr. Nervige Ansagen der uncoolen Betreuer. Das Zusammensein mit Grüppchen, die er von der Schule kennt: die Netten, die Zocker, die Sportler, die Einser, die Pferdemädchen. Und selbstverständlich die Brutalos. Am Ende der Nahrungskette: die Außenseiter. Genau genommen sind es zwei. Der zarte, zerbrechlich wirkende Jörg mit seinen freundlichen Umgangsformen. Und, jawohl, der lonesome Cowboy ohne Namen – ein Eigenbrötler und Einzelgänger: „Meine Klasse kennt mich tatsächlich gut genug, um mich zu ignorieren. Nennt sich Reputation. Meine Reputation ist die von einem, der sich gern beschwert und der gern keine Lust auf nichts hat.“ Aber finden er und Jörg deshalb auch zusammen?

Obwohl es Annäherungen gibt – gemeinsames Zimmer, kleine Gesten, übereinstimmende Good-Guy-Bad-Guy-Liste –, hadert der Namenlose mit moralischen Verhaltensprinzipien. Er findet sich zwar in der Theorie auf Jörgs Seite, beim praktischen Handeln aber ist er ein absoluter Schisser. Wenn das ideale Mobbingopfer Jörg wieder einmal von den Obermackern im Camp drangsaliert wird, hält er sich fern. Er kümmert sich bestenfalls um die körperliche und seelische Unversehrtheit seines Zimmergenossen, wenn es niemand sieht. Mitunter ist man als Leser ganz gerührt von diesen zaghaften Versuchen, auf holprigem Weg zur wahrhaftigen Freundschaft zu gelangen. Vor allem, wenn man sich seiner eigenen Schwankungen in Sachen Zivilcourage erinnert. Doch manchmal möchte man dem Jungen auch einfach zurufen: „Jetzt reiß dich zusammen und tu was Gutes!“

Wie Saša Stanišić die beiden Außenseiter in der Geschichte positioniert, wie er seinen Erzähler dazu bringt, sein Inneres nach außen zu kehren, wie er das Milieu eines Sommercamps voller pubertierender Jungs und Mädchen zum Leben erweckt und es mitten in diesen sandtrockenen brandenburgischen Kiefernwald setzt, wie er ganz unauffällig eine kleine Hymne auf das fröhliche Aus-der-Reihe-Tanzen in die Handlung schiebt – das belegt einmal mehr die große literarische, stilsichere Erzählkunst des Menschenbeobachters Saša Stanišić.
Buchcover Wolf

Von Siggi Seuß

​Siggi Seuß, freier Journalist, Hörfunkautor und Übersetzer, schreibt seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbuchkritiken.